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Gericht: Hessischer Verwaltungsgerichtshof
Beschluss verkündet am 14.01.2002
Aktenzeichen: 2 TG 3008/01
Rechtsgebiete: FeV
Vorschriften:
FeV § 14 | |
FeV § 46 |
Hessischer Verwaltungsgerichtshof Beschluss
2. Senat
In dem Verwaltungsstreitverfahren
wegen Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Konsums von Kokain
hat der Hessische Verwaltungsgerichtshof - 2. Senat - durch Vorsitzenden Richter am Hess. VGH Habbe, Richter am Hess. VGH Dr. Zysk, Richter am Hess. VGH Pabst
am 14. Januar 2002 beschlossen:
Tenor:
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Kassel vom 4. September 2001 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung abgeändert.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 17. August 2001 gegen den Bescheid des Landrats des Landkreises Fulda vom 16. August 2001 wird wieder hergestellt.
Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Der Streitwert wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.045,00 € festgesetzt.
Gründe:
Die Beschwerde hat Erfolg. Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs ist begründet. Der Bescheid über die Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers vom 16. August 2001 ist offensichtlich rechtswidrig, so dass dem Interesse des Antragstellers, einstweilen von dieser Maßnahme verschont zu bleiben, der Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse einzuräumen ist (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 i.V.m. Abs. 5 VwGO).
Die Fahrerlaubnisbehörde hat ihren Bescheid über die Entziehung der Fahrerlaubnis auf den Umstand gestützt, dass der Antragsteller nach dem Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Justus-Liebig-Universität Gießen vom 20. Juni 2001 Kokain konsumiert hat. Nach diesem Gutachten war die Blutuntersuchung auf Benzoylecgonin "schwach positiv (45,9 ng/mL)". Das Verwaltungsgericht hat die Auffassung der Fahrerlaubnisbehörde im Anschluss an den Beschluss des OVG Rheinland-Pfalz vom 21. November 2000 (DAR 01, 183) mit der Begründung bestätigt, nach Ziffer 9.1 der Anlage 4 zu §§ 11, 13 und 14 FeV (Anlage 4 FeV) führe schon der einmalige Konsum von Kokain zum Verlust der Fahreignung. Dieser Auffassung vermag sich der Senat nicht anzuschließen.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG und § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde einem Kraftfahrer die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn er sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Das gilt nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 vorliegen. Nach Ziffer 9.1 der tabellarisch aufgebauten Anlage 4 entfällt bei "Einnahme von Betäubungsmitteln im Sinne des Betäubungsmittelgesetzes (ausgenommen Cannabis)" die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen. Es ist schon zweifelhaft, ob ein einmaliger früherer Genuss von Kokain den Begriff der Einnahme erfüllt, der in der amtlichen Begründung zu § 14 FeV mit dem Begriff Konsum gleich gesetzt wird (vgl. BR-Drs. 443/98, S. 262). Diese Begriffe könnten auch an ein gegenwärtig anhaltendes und in die nahe Zukunft zielendes Konsumverhalten anknüpfen, zumal der Verordnungsgeber in § 14 Abs. 1 Satz 2 FeV die Formulierung "besitzt oder besessen hat" gebraucht.
Diese Frage bedarf hier keiner abschließenden Beurteilung, weil sich die durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebotene einschränkende Interpretation der Ziffer 9.1 der Anlage 4 FeV bereits aus der Vorbemerkung der Anlage ergibt. Nach Ziffer 2 der Vorbemerkung ist Grundlage der Beurteilung, ob im Einzelfall Eignung oder bedingte Eignung vorliegt, in der Regel ein ärztliches Gutachten oder in besonderen Fällen ein medizinisch-psychologisches Gutachten oder ein Gutachten eines amtlich anerkannten Sachverständigen oder Prüfers. Ziffer 2 der Vorbemerkung darf nicht dahin missverstanden werden, dass die dort genannten Gutachten nur zur Beurteilung der Frage einzuholen sind, ob im Einzelfall Eignung einerseits oder bedingte Eignung andererseits vorliegt. Denn nach der Systematik der Anlage 4 wird stets die Frage nach der Eignung oder bedingten Eignung aufgeworfen und - ggf. mit Einschränkungen - bejaht oder verneint. Die Ziffer 2 der Vorbemerkung betrifft daher gerade die Abgrenzung zwischen Eignung und bedingter Eignung auf der einen und der Nichteignung zum Führen von Kraftfahrzeugen auf der anderen Seite. Die vermeintliche Diskrepanz zwischen der Stringenz der Ziffer 9.1 der Anlage 4 und der Ziffer 2 der Vorbemerkung, die in der Regel eine Begutachtung des Einzelfalles vorsieht, löst sich ohne weiters auf, wenn man die Anlage 4 mit Geiger (DAR 01, 488 <489>) als Leitlinie für den ärztlichen oder medizinisch-psychologischen Gutachter ansieht.
Wenn - wie hier - der frühere Konsum von Kokain durch ein Drogenscreening festgestellt worden ist, liegt darin noch kein ärztliches Gutachten im Sinne der Ziffer 2 der Vorbemerkung zu Anlage 4 FeV. Das soll nämlich die Frage beantworten, ob im jeweiligen Einzelfall wegen des festgestellten Mangels Fahreignung vorliegt oder nicht. Das Gutachten vom 20. Juni 2001 beantwortet lediglich die Frage nach dem Genuss von Betäubungsmitteln und befasst sich nicht mit der Beurteilung, ob wegen dieses - hier nur einmal nachgewiesenen - Drogenkonsums die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist.
Wenn somit nach Ziffer 2 der Vorbemerkung zu Anlage 4 FeV Grundlage der Beurteilung der Eignungsfrage im Einzelfall in der Regel ein ärztliches oder medizinisch-psychologisches Gutachten ist, kommt die widerlegbare Vermutung der fehlenden Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen in Ziffer 9.1 der Anlage 4 FeV im Rahmen dieser Begutachtung zu tragen; sie rechtfertigt aber nicht den Schluss der Fahrerlaubnisbehörde, dass sich ein Kraftfahrer schon allein durch den einmaligen Konsum von Kokain - entsprechendes gilt für Amphetamine - als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat.
Nur diese Interpretation wird dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerecht. Die Entziehung der Fahrerlaubnis soll als ordnungsbehördliche Maßnahme Gefahren entgegenwirken, die dadurch entstehen können, dass Personen am öffentlichen Straßenverkehr teilnehmen, die nicht oder nicht mehr geeignet sind, ein Kraftfahrzeug zu führen. Die Frage nach der Fahreignung ist eine prognostische Einschätzung des künftigen Verhaltens - im vorliegenden Zusammenhang eine Einschätzung des künftigen Konsumverhaltens - des Kraftfahrers. Allein die Anknüpfung an einen früheren Kokaingenuss rechtfertigt einen derart schwerwiegenden Eingriff nur dann, wenn er einen hinreichend sicheren Schluss auf das künftige Konsumverhalten zulassen würde. Eine wissenschaftliche Erkenntnis, die einen derartigen Automatismus belegen würde, ist dem beschließenden Senat nicht bekannt. Sie lässt sich insbesondere nicht aus dem Gutachten "Krankheit und Kraftverkehr" (Fassung 1996) ableiten, weil die dort (Ziffer 9.A Abs. 1 - Seite 28 -) gebrauchte Formulierung "Wer Rauschmittel ... nimmt oder von ihnen abhängig ist ..." nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit erkennen lässt, dass der einmalige Konsum von Kokain automatisch den Verlust der Fahreignung nach sich zieht. Gegen diese Einschätzung sprechen vielmehr die Gegenüberstellung von Missbrauch und regelmäßiger Einnahme in den Ziffern 9.1 und 9.2 (a.a.O., Seite 28) sowie die Fassung des 2. Absatzes der Ziffer 9.A (a.a.O., Seite 29), in dem es heißt: "Wer, ohne abhängig zu sein, missbräuchlich oder gewohnheitsmäßig Stoffe der obengenannten Art zu sich nimmt ..."
Nach allem rechtfertigt der dem Antragsteller allein nachgewiesene einmalige Konsum von Kokain noch nicht die sofortige Entziehung der Fahrerlaubnis. Er begründet aber Bedenken gegen seine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen, die durch die Anordnung einer Begutachtung nach Ziffer 2 der Vorbemerkung zu Anlage 4 FeV aufzuklären sind.
Dem Einwand des Antragstellers, er habe nie bewusst Kokain zu sich genommen, ist das Verwaltungsgericht zu Recht nicht gefolgt. Es hat seine Einlassung, eine andere Person habe ihm das Betäubungsmittel in ein Getränk gemischt, als bloße Schutzbehauptung gewertet. Auch wenn das Verwaltungsgericht den Wert des konsumierten Kokains zu hoch angesetzt haben sollte, trifft seine Argumentation zu. Die Einlassungen des Antragstellers sind so wenig plausibel, dass sie ohne tatsächliche Belege als reine Schutzbehauptungen gewertet werden müssen.
Als Aufklärungsmaßnahme im Sinne der Ziffer 2 der Vorbemerkung zu Anlage 4 FeV kommt hier eine medizinisch-psychologische Begutachtung in Betracht. Weitere ärztliche Untersuchungen in Form eines Drogenscreenings können zwar auch Indizien für ein künftiges Konsumverhalten liefern, eine sichere Prognose über sein künftiges Verhalten hängt aber wesentlich von der Einstellung des Antragstellers zu der Drogenproblematik ab, so dass eine medizinisch-psychologische Begutachtung angezeigt ist.
Der Antragsgegner hat als unterlegener Beteiligter die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 1 VwGO).
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 14 Abs. 1 und 3, 13 Abs. 1 und 20 Abs. 3 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 25 Abs. 3 Satz 2 GKG).
Ende der Entscheidung
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